«Dank des Stipendiums wurde mein Swiss Dream zur Wirklichkeit»

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Lidia Lesnykh forscht mit einem Bundes-Exzellenz-Stipendium an der Universität Lausanne zur Universitätssport-Bewegung. Bild: zVg

Die Historikerin und Sportwissenschaftlerin Lidia Lesnykh (27) aus Moskau hatte während Jahren den Wunsch, in der Schweiz zu studieren. Nach dem Abschluss ihres Masters in Paris und dank eines Bundes-Exzellenz-Stipendiums ging dieser 2017 in Erfüllung. Seither forscht sie als Doktorandin an der Universität Lausanne. Die Sportstadt hat sich für sie als wahrer Glücksfall entpuppt.

Erklären Sie uns, woran Sie in Ihrem Doktorat forschen?
Lidia Lesnykh: Ich beschäftige mich mit der internationalen Universitätssport-Bewegung zwischen 1919 und 1961. Konkret untersuche ich die Geschichte der Weltsportspiele der Studenten, die in der Schweiz unter der Bezeichnung «Universiade» besser bekannt sind. Es handelt sich dabei um eine Bewegung, die sich parallel zu den Olympischen Spielen entwickelt hat.

Was interessiert Sie daran besonders?
Ich versuche aufzuzeigen, wie sich politische, diplomatische, soziale, kulturelle und schliesslich auch ganz persönliche Aspekte auf den internationalen Universitätssport ausgewirkt haben. So kann ich analysieren, warum verschiedene Organisationen überhaupt entstanden, weshalb gewisse Personen dort in leitende Positionen gewählt wurden oder warum Städte den Zuschlag zur Austragung von Wettkämpfen erhielten. Besonders spannend und aufschlussreich ist es, Interviews mit früheren Funktionären und Athleten zu führen.

Wie sind Sie zu diesem Forschungsgebiet gekommen?
Das war Zufall! Ich wollte nach meiner Masterarbeit im Bereich Sportgeschichte weiterforschen und stellte fest, dass es fast keine historische Aufarbeitung zur Universitätssport-Bewegung gibt. Da Lausanne die olympische Hauptstadt und eine wichtige Drehscheibe des internationalen Sports ist, war das Institut für Sportwissen­schaften der Universität Lausanne der beste Ort für ein entsprechendes Forschungsvorhaben. Das vorhandene Fachwissen und die Betreuung sind ideal, damit ich mein Doktorat erfolgreich durchführen kann. Es gibt hier eine lebendige Forschungsgemeinschaft, von der ich sehr schnell aufgenommen wurde.

Lausanne ist also der perfekte Ort für Sie.
Absolut, es passt sogar besser als erwartet. Mit der Arbeit an meinem Forschungsthema habe ich schon im Jahr 2016 begonnen, als der Internationale Hochschulsportverband (FISU), der für meine Forschung zentral ist, noch in Brüssel beheimatet war. Als ich 2017 nach Lausanne kam, erfuhr ich, dass der Verband ebenfalls nach Lausanne ziehen würde – und zwar in dasselbe Gebäude, in dem sich auch das Institut für Sportwissenschaften befindet. Ein wunderbarer Glücksfall, durch den sich die Möglichkeit einer Zusammenarbeit mit dem Verband ergeben hat.

Wie sind Sie überhaupt mit der Universität Lausanne in Kontakt gekommen?
Ich kannte den Namen meines heutigen Supervisors Prof. Patrick Clastres aus wissenschaftlichen Artikeln. Einmal, als ein Freund von mir seine Dissertation verteidigte, sass Prof. Clastres in der Jury. Da nutzte ich die Gelegenheit und stellte mich ihm vor. Meine Forschungsidee zum internationalen Universitätssport interessierte ihn, doch stellte sich die Frage der Finanzierung. Dank meiner erfolgreichen Bewerbung für das Exzellenz-Stipendium des Bundes liess sich diese Frage glücklicherweise klären.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit Ihrem Supervisor?
Prof. Patrick Clastres hat enzyklopädisches Wissen über sehr viele Themen. Das hat mir enorm dabei geholfen, meine Ideen zu entwickeln. Er ist immer da, um Ratschläge oder moralische Unterstützung zu geben, was für mich sehr wertvoll ist. Auf wissenschaftlicher Ebene ist er fordernd, doch davon kann ich nur profitieren.

Wie beurteilen Sie das Stipendienprogramm?
Das Stipendium half mir, meinen Swiss Dream zu verwirklichen. Ich wollte schon seit etwa zehn Jahren hierherkommen, um zu studieren, aber ich wusste nicht, wie das für mich möglich sein sollte. Dank des Stipendiums wurde der Traum Wirklichkeit. Ich fühle mich privilegiert und geehrt, dass es geklappt hat und ich ausgewählt wurde. Ich sage oft zu meinen Freunden: Wo in der Welt könnte ich sonst in meinem Alter bei so fantastischen Bedingungen meiner Forschungstätigkeit nachgehen?

Wie gefällt Ihnen das Leben in der Schweiz?
Ich spüre, dass die Schweiz ein Land ist, in dem sich die Menschen schätzen und einander vertrauen. Ich bin glücklich, fühle mich sicher und geniesse es, dass ich schnell in der Natur und am See bin. Leider habe ich zu wenig Zeit, um wirklich auf Entdeckungstour zu gehen und neue Orte kennenzulernen. Ich habe meinen Aufenthalt sicher noch zu wenig genutzt, um mehr über andere Kantone und Regionen der Schweiz zu erfahren.

Was vermissen Sie hier?
Früher lebte ich in Moskau und Paris, zwei riesige Hauptstädte. Manchmal sehne ich mich ein wenig nach der Dynamik dieser Metropolen, zum Beispiel nach dem Stress, den man spürt, wenn man dort den ÖV nutzt. Natürlich weiss ich, dass man das eigentlich nicht vermissen sollte.

Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Ich möchte meine akademische Laufbahn weiterverfolgen und habe bereits einige Ideen für einen Postdoc. Dazu ginge ich gerne in ein angelsächsisches Land, um meine Erfahrungen weiter zu diversifizieren. Gleichzeitig reizt es mich, in einer internationalen Sportorganisation zu arbeiten oder eine Position im internationalen Genf anzutreten. Interessant wäre es auch, Ausstellungen für Museen oder Organisationen in den Bereichen Sport, Tourismus und Kultur zu konzipieren. Es gibt also verschiedene Optionen, die ich mir offenhalten möchte.

Der Supervisor

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Professor Patrick Clastres profitiert als Supervisor von der internationalen Vernetzung und möchte auch in Zukunft mit Stipendiatinnen und Stipendiaten zusammenarbeiten.
Bild: zVg

Patrick Clastres ist assoziierter Professor am Zentrum für Geschichtswissenschaft und Kultur, am Institut für Sportwissenschaften sowie am Zentrum für internationale Geschichte und politische Studien der Globalisierung der Universität Lausanne. Er forscht zur politischen und kulturellen Geschichte des Sports im nationalen und internationalen Kontext.

Aufgrund welcher Kriterien haben Sie sich entschieden, Lidia Lesnykh als Doktorandin in Ihre Forschungsgruppe aufzunehmen?
Patrick Clastres: Als ich Lidia an der Sorbonne in Paris traf, überzeugte sie mich sofort mit ihrem positiven und dynamischen Naturell. Zudem brachte sie sehr viele Qualifikationen mit: Sie hat ein Doppelstudium in Geschichte und Sportwissenschaften absolviert, spricht sechs Sprachen – unter anderem Neugriechisch –, sie hat verschiedene Stipendien in Moskau und Paris erhalten und sie brachte ein grosses Interesse für die Sportgeschichte und die Studentensportbewegung mit. Also schlug ich ihr vor, sich für ein Bundes-Exzellenz-Stipendium zu bewerben und gemeinsam mit mir ein Thema einzugrenzen, für das sie Leidenschaft verspürt, das zu meinem Forschungsgebiet passt und das den Stand der Literatur berücksichtigt.

Inwiefern profitieren Sie und Ihre Forschungsgruppe von der Zusammenarbeit mit ihr?
Mit ihren zahlreichen Besuchen von Archiven ausserhalb der Schweiz und ihrer Mehrsprachigkeit beschleunigt Lidia die Etablierung von Verbindungen zu ausländischen Forschenden. Sie hat uns auch ermöglicht, ein wissenschaftliches Fenster nach Russland und Osteuropa zu öffnen. Zurzeit bereitet sie einen internationalen Studientag über die Geschichte des Universitätssports in Europa vor, der im Herbst 2021 ein Dutzend ausländische Forschende nach Lausanne locken wird. Mit ihrer Arbeit zum Internationalen Hochschulsportverband, dem im Übrigen aktuell ein Russe vorsteht, liefert Lidia schliesslich ein schönes Beispiel für eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen der Wissenschaft und den zahlreichen internationalen Sportorganisationen in Lausanne.

Möchten Sie auch in Zukunft in solchen Tandems mit Stipendiatinnen oder Stipendiaten arbeiten?
Auf jeden Fall. Diese Art von Zusammenarbeit ist eine wunderbare Möglichkeit, einen Anschluss an die Globalisierung der historischen Forschung herzustellen. Auf menschlicher Ebene ist es eine Gelegenheit zum kulturellen Austausch mit jungen Forschenden, die aufgrund ihrer Herkunft andere Perspektiven einnehmen können. Sie stehen zudem für die Zukunft der Geschichtswissenschaft, die – wie ich hoffe – weniger durch nationale Erzählungen geprägt sein wird.

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